Reformationsmarkt Es muss nicht immer Haithabu sein

Blick auf das Marktgeschehen im Klosterhof. © Marcel Schwarzenberger

Schon mal „Reformationsluft“ geschnuppert? Was das Nordelbische Bibelzentrum Schleswig und Jörg Nadler am vergangenen Wochenende zeigten, war nicht einfach ein Markt. Es war ein bisher einmaliges Experiment in der Spätmittelalterszene.

Luther und die Wikinger

Ausgerechnet Schleswig. Die Schlei schwappt fröhlich am regenfeuchten Samstagnachmittag an die Ufer des Holms. Eine anheimelnde Fischersiedlung vor den Toren der Altstadt, erstmals um 1000 besiedelt. Wie überhaupt die frühmittelalterliche Zeit in Schleswig heutzutage zünftig gefeiert wird. Am anderen Schleiufer verschwimmen die Reste der wohl berühmtesten Wikingersiedlung auf deutschem Boden: Haithabu. Was also hat Luthers Epoche mit Schleswig zu tun?

Ausgerechnet hier, kurz vor der dänischen Grenze, steigt der erste Reformationsmarkt der Stadt – und wohl auch der erste Markt, der mit einem so ganzheitlichem Konzept in der deutschen Spätmittelalterszene ausgerichtet wird. Handwerk, Musik, lokalhistorisches Wissen und schließlich kirchliche Themen bilden die Grundpfeiler des Programms, versprechen Jörg Nadler und seine Mitstreiter von der Gruppierung „Projekte zur lebendigen Geschichte“.

Die ersten Bedenken lösen sich beim Gang über den Holm auf. Die Insel – erst im 20. Jahrhundert mit dem Festland verbunden – erlebte im 15. Jahrhundert eine Glanzzeit. Die hiesigen Fischer bekamen um 1480 Sonderrechte zur Ausübung ihrer Geschäfte auf der Schlei. Und in dieser Tradition steht auch Jörg Nadler, selbst ein professioneller Schleifischer, der sich während seiner Freizeit in der jeweiligen Ausstattung seiner Zunft in mehreren Zeitebenen bewegt. Heute eben als Fischer um 1500. Über der Schleswiger Altstadt erhebt sich der mit etwas über 100 Jahren noch recht junge Turm von St. Petri über dem indes altehrwürdigen spätgotischen Dombau. Und darin wiederum steht ein Altar, mehr als zwölf Meter hoch, mit Passionszenen nach Dürer – und im frühen 16. Jahrhundert von Hans Brüggemann aus Eichenholz geschnitzt.

Und dann stehe ich unvermittelt vor den Mauern des St. Johannisklosters. Das Tor eröffnet eine kleine Welt, die sich augenscheinlich in den vergangenen 500 Jahren kaum verändert hat. Kopfsteinpflaster, uraltes Mauerwerk und verwinkelte Gärten prägen das Bauwerk, das heute als Damenstift noch bewohnt ist. Benediktiner gründeten das Kloster um 1200. Und nach Bränden wurde das Ensemble Ende des 15. Jahrhunderts gründlich renoviert. „Und das ist weitgehend der heutige Zustand. St. Johannis ist das besterhaltene Kloster in Schleswig-Holstein“, hatte mir Pastor Michael Bruhn vom Nordelbischen Bibelzentrum zuvor erzählt. Seine Einrichtung hat Teile des Klostergeländes bezogen. Ein Gebäude birgt die funktionstüchtige Replik einer Druckerpresse von 1450. Ja, es gibt „Neubauten“ aus dem 18. Jahrhundert. Was solls, mich umwabert schon der Dunst früherer Jahrhunderte.

Geschichte riecht auch wie Fisch

Es geht vorbei an Ständen mit Naschwerk aus Nüssen und Honig, Drechselarbeiten, Töpferwaren, einem Pfeilemacher. Mitten im Hof steht spätmittelalterliches Mobiliar. Der Duft von geräuchertem Fisch zieht über den Hof – und den Besucher unweigerlich zu Nadlers Stand. Ein uriger Räucherofen, Holzfeuer, Seile, eine Fischreuse. Immer mehr Details des alten Fischereihandwerks sind für den zu erkennen, der mit Ruhe das Auge schweifen lässt. Gut 30 Akteure haben ihre Stände auf dem Gelände aufgeschlagen, von Hektik oder überbordenden Programmpunkten keine Spur. Genug Zeit also, sich in das Angebot zu versenken.

„Seit einem Jahr haben wir das hier geplant“, verrät Nadler, während er mit seinen Fischen hantiert. Zuvor hatte er selbst schon einige Auftritte auf dem Klostergelände gehabt. Und dann mit Pastor Bruhn die Idee für den Reformationsmarkt entwickelt. „Wir wollten ganzheitlich herangehen und ein umfassendes Bild der Zeit um 1500 anbieten“, sagt er. Die Gesellschaft für Schleswiger Stadtgeschichte ist ebenfalls dabei und informiert die Besucher über die Ereignisse vergangener Zeiten. Führungen durch das Gelände und gemeinsame Gebetsstunden in der Klosterkirche bieten reizvolle Alternativen zum Gang über den Markt. Und Bischof Hans Christian Knuth spricht am Nachmittag zu aktuellen Themen aus lutherischer Sicht.

All dem liege ein museales Konzept zu Grunde, sagt Nadler. „Jedes Detail, was es hier zu sehen gibt, soll auch in die dargestellte Zeit passen“, erklärt er. Spontan zeige ich auf einen dunkelbraunen Krug, der hinter Sylvia Crumbach steht, Mitorganisatorin von der Vereinigung „Projekte zur lebendigen Geschichte“ und unermüdlich mit dem Garen saftiger Fischstücke beschäftigt. Lächelnd hebt sie den Krug hoch, der bei näherem Hinsehen ein bärtiges Gesicht erkennen lässt. „Das ist die Nachbildung eines Bartmannskrugs“, sagt sie, „der um 1500 sehr beliebt und verbreitet war.“ Dieser Punkt geht an sie.

Nebenan versucht sich Roland Schulz von „Leben und Handwerk“ an der Fertigung einer gebogenen Spitze eines spätmittelalterlichen Schuhs. Vor sich hat er Lederwaren ausgebreitet, in einem großen Kessel vor der Bude färbt seine Partnerin Julia Weigelt Stoffe. Die Mischung der Stände gefalle ihm, sagt Schulz. Das Konzept ist ganz nach seinem Geschmack. Von kriegerischen Aktionen, die so oft historische Veranstaltungen prägen, ist im Kloster nichts zu spüren. Und wenn etwas das Bild stört, dann sind es die modischen Kleider der Besucher. Ein notwendiger Missstand.

Was aber im Vergleich zu klassischen Mittelaltermärkten fehlt, sind gewandete Besucher. Ganz gleich, wie gut eine Klamotte angefertigt wurde: Kein Besucher darf mit historisierender Gewandung aufs Gelände. „Das Konzept wäre sonst nicht mehr stimmig“, begründet Nadler. Mitveranstalter Bruhn hat er auf seiner Seite. Obwohl es zuvor verwunderte Anrufe aus der Mittelalterszene gegeben habe, wie der Pastor mir erzählt hatte. Ein Markt ist nur dann ein Markt, wenn ein jeder in seiner eigenen Gewandung erscheinen kann. Das ist das Credo vieler Anhänger der Szene. Unabhängig von der Güte ihrer Ausstattung. Doch eben zu dieser Haltung wollten die Organisatoren des Reformationsmarktes ein Gegenkonzept entwerfen. „Und da gab es für uns keine Diskussion“, hatte Pastor Bruhn gemeint.

Gut möglich, dass mit einer lockeren Haltung mehr Besucher gekommen wären. Das Marktgelände ist kaum überlaufen. Rund 1000 Menschen kommen insgesamt, erfahre ich später. Allein an der geografischen Lage Schleswigs kann dies kaum liegen. Mich stört die Ruhe im Augenblick kaum. Im Gegenteil, so gibt es mehr Gelegenheiten, mit den Akteuren ins Gespräch zu kommen. Und es ist gut, dass ich nicht bei jedem Gewandeten überlegen muss, ob er nun dazugehört oder nicht.

Mühle? Eine Art „Computer“!

Am Bibelgarten begegnet mir Ralf Ebelt vom Nürnberger Aufgebot 1474. Der „Quotenkrieger“ des Marktes, witzelt er. Er ist der einzige Gerüstete unter den Akteuren und kommt mit einem Kompositharnisch daher, dessen Zierrillen auf der Brust auf den typisch deutschen Geschmack des späten 15. Jahrhunderts verweisen. Ebelt genießt seinen Auftritt als Vertreter einer spätmittelalterlichen Bürgerwehr. So mancher würde bei seinem Anblick von einer „scheppernden Rüstung“ schwafeln. Tatsächlich klimpert nichts an dem Mann. Alles sitzt so, wie es sein muss. Sogar den Kinnriemen seines Eisenhutes zieht Ebelt noch einmal fest, bevor er sich fotografieren lässt, die Hellebarde stolz in den Boden gestemmt. Und jedem, der ihn fragt, steht er Rede und Antwort, was den Wehrdienst der Bürger und deren Ausrüstung angeht.

Weniger martialisch ausstaffiert ist Anders Larsen. Der Däne hat sich den „Elvelüüt Hamborch“ angeschlossen, einer aufs Spätmittelalter fokussierten Gruppe aus Hamburg. Larsens bunte Kleidung ist mit kleinen Einschnitten übersät, weite Ärmel blähen sich, sobald etwas Wind aufkommt. Ein Dolch steckt im Gürtel. Es ist die Kleidung eines Landsknechts dieser Zeit – nur ohne eiserne Wehr. Auch an ihm zeigen sich um so mehr Details, je länger man ihn betrachtet. Die Nestelbänder, die Zierschnitte – alles hat seine Funktion. Und auch das Schuhwerk ist etwas anders als bei Darstellern der Hochmittelalterszene. Breiter in der Front. „Eben typisch für die Zeit um 1500“, meint Anna Klinck, die selbst eine Bürgerfrau bei den „Elvelüüt“ darstellt und oft deren Modenschauen auf historischen Veranstaltungen moderiert.

Die Hamburger haben sich auf die Darstellung von Kaufleuten spezialisiert. Sie verkaufen ihre Erzeugnisse – Wachskerzen, Tuche und ein Fass mit gepökelten Heringen – nicht. Über diese kommen sie mit Besuchern ins Gespräch. Vor Andreas Vollborn etwa liegt ein gemustertes, flaches Ding mit runden Scheiben darauf. Von Ferne erinnert es an eine Art Mühlenspiel. Doch das mysteriöse Etwas diente damals keinesfalls dem Zeitvertreib zwischen zwei Kundengesprächen. „Das ist eine Rechenhilfe”, klärt Vollborn auf.

Marias Verehrung und das Lied vom Räuber

Es bleibt schließlich noch der Weg ins Klostergebäude. Am Kreuzgang entlang geht es zum Remter, dem Speise- und Versammlungssaal. Heute ist es das Reich der Göttinger Musikwissenschaftlerin Karen Thöle und den Musikern der Leipziger Gruppe Nimmersêlich. Aus ihrem Studienschwerpunkt Alte Musik entwickelte Thöle ein Programm, mit dem sie bereits einige hochmittelalterliche Veranstaltungen bestritt. Vor allem das 13. Jahrhundert mit seinem Liedgut aus England, Frankreich und dem Reich der Stauferkaiser habe es ihr angetan, erzählt sie. Den Besuchern heute bietet sie Einblicke in die Musikentwicklung vom 9. bis zum 15. Jahrhundert. Gesangseinlagen und Harfenklänge inklusive.

Nimmersêlich legen Live-Arrangements verschiedenster Musikstile nach. „Der Lindenschmied“ etwa ist ein Klassiker aus dem 15. Jahrhundert, sagt Robert Schuchardt, bevor er zur Fidel greift. Die Gruppe spielt das überlieferte Volkslied heute zum ersten Mal. Schwungvoll breitet sie die Geschichte eines Räubers aus. Martin Uhlig hat mit einem selbstgebauten Psalterium, wie es im Spätmittelalter gebräuchlich war, gleichfalls ein passendes Instrument dabei. Originale Texte, gespielt auf originalgetreuen Instrumenten, das ist der Stil von Nimmersêlich. Sei es, dass sie eine Cantiga de Santa Maria spielen, also ein Loblied auf die Muttergottes, oder Vertonungen von Minneliedern. Nur die Gewandung fehlt den Musikern. „Wir haben halt nur hochmittelalterliche Kleidung“, begründet Schuchardt. Und damit gilt auch für sie die Pflicht zur modernen Kluft.

Die Sonne versinkt schon als ich das Kloster verlasse. Noch viel mehr hätte ich mir anschauen mögen. Am Konzept der Organisatoren gibt es nichts zu rütteln. Doch einige Stände mehr, noch mehr Gewerke, andere Gruppen und eine buntere Vielfalt – das ist der Veranstaltung für eine Neuauflage zu wünschen. Die wird es möglicherweise auch geben, meint Nadler. Das Ambiente passt, davon bin ich nunmehr überzeugt. Schleswig muss nicht nur als Wikingerstadt in aller Munde sein. Ob auch mit einem vergrößerten Aufgebot an Akteuren mehr Besucher aus ferneren Regionen kommen, darf bezweifelt werden. Aber als feste Größe im lokalen Veranstaltungskalender darf sich der Reformationsmarkt getrost etablieren. Und er gibt faszinierende Möglichkeiten vor, wie Ähnliches auch anderswo umgesetzt werden kann.

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1 Kommentare

  1. Danke für diesen schönen Bericht. Ich habe Sylvia und den anderen so die Daumen gedrückt, dass es ein schöner Reformationsmarkt wird. Es scheint geholfen zu haben. Schade, dass ich nicht da sein konnte.
    Der Turms

    06. November 2006, 12:11 Uhr • Melden?
    von Turms
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